Kränkungen sind mächtig. Sie können Menschen blockieren, sie ihrer Entfaltungsmöglichkeiten berauben, in Selbstzweifel stürzen und auch in eine Depression. Kränkungen sind meist Ursache für Gewalt, Mord und Terror. Reinhard Haller, der berühmte Kriminalpsychiater und Gerichtsgutachter hat in seiner langjährigen Tätigkeit bei zahlreichen Verbrechern kein anderes Motiv erkannt, als tiefe Gekränktheit. Könnte bei so viel destruktiver Energie nicht auch eine Chance in der Kränkung liegen? In seinem Buch „Die Macht der Kränkung“, welches bei Ecowinerschienen ist, schreibt er, dass viele Täter oder Täterinnen im Grunde gekränkte Genies seien. Künstler und Künstlerinnen haben große Werke geschaffen, weil sie gekränkt wurden.
Die größte Chance sieht Reinhard Haller im Umgang mit Kränkungen aber darin, unsere Sensibilität, Emotionalität und Empathiefähigkeit zu verbessern. Üblicherweise reagieren wir auf Kränkungen mit Abwehr- und Fluchtreflexen, reagieren mit Zorn, Wut und sinnen auf Rache. Doch unsere Feinde können auch unsere besten Lehrmeister sein. Dieser buddhistischen Weisheit folgend können wir Kränkungen einen positiven Bedeutungsgehalt geben. Wir können eine „Kränkungskompetenz“ erlernen und so die Kränkungen entschärfen, neutralisieren und positiv nutzen. Es liegt an uns, schreibt Reinhard Haller im schon erwähnten Buch, die destruktive Wirkkraft in konstruktive, analytische Energie umzuwandeln. Vieles hätte ich ohne Kränkungen, die mir widerfahren sind nicht gemacht, was letztlich ein großer Erfolg wurde. Die CityScienceTalks bei meiner langjährigen Sendungsverantwortung bei Ö 1 beispielsweise, diesen wissensART Podcast, oder jene Gespräche für die Freunde der Salzburger Festspiele, die bereits mehr als 50.000 Stunden lang gehört wurden. Reinhard Haller hätte dafür wahrscheinlich auch noch andere Erklärungen, aber für diesen Podcast halte belasse ich es bei seinen Analysen, die er in seinem Buch beschreibt. So meint der Arzt, Psychiater und Psychotherapeut etwa, dass die Voraussetzung für die konstruktive Nutzung von Kränkungen - neben der Änderung von Voreingenommenheit - eine verbesserte Eigenreflexion sei. Als Werkzeug nennt er dafür den Spiegel. Schon C. G. Jung hat diese Psychotechnik eindrücklich beschrieben. Zitat: „Wer in den Spiegel des Wassers blickt, sieht allerdings zunächst sein eigenes Bild. Wer zu sich selber geht, riskiert die Begegnung mit sich selbst. Der Spiegel schmeichelt nicht, er zeigt getreu, was in ihn hineinschaut, nämlich jenes Gesicht, das wir der Welt nie zeigen, weil wir es durch die Persona, die Maske des Schauspielers, verhüllen. Der Spiegel aber liegt hinter der Maske und zeigt das wahre Gesicht.“ Und Kränkungen weisen uns nicht nur auf Probleme hin und Verwundungen, sondern auf unsere sensiblen Stellen. Bei manchen Dingen ist es uns gar nicht bewusst, wie sehr wir sie verinnerlich haben. Manche Werte beschützen wir instinktiv, andere wurden uns durch unsere Erziehung mitgegeben. Kränkungen machen uns auf unsere Schwächen aufmerksam, zeigen uns aber auch unsere Stärken.
(c) Foto: Darko Todorovic, Ecowin